Gelsomina. Ein Fotoessay

Katharina Lepik

Gelsomina. Ein Fotoessay
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sub\urban (s\u): Gibt es zunächst ein paar Fotos als Ausgangspunkt mit denen Sie dann gezielt weiterarbeiten? Wie hat sich die Serie entwickelt?

Katharina Lepik (KL): An einem der wenigen Tage im Jahr, an denen München mit einer feinen Schneeschicht bedeckt war, kam ich zufällig an einem Zirkuszelt vorbei, vor dem ein Anhänger stand, an dem eine riesige Uhr hing. Das Ganze wirkte arrangiert, wie eine Filmszene oder ein Bild aus einem Traum. Es war aber vermutlich reiner Zufall. Ich fuhr sehr schnell nach Hause, um meine Kamera zu holen. Glücklicherweise war alles unverändert, als ich zurückkam. Nach dieser Aufnahme entstand der Wunsch, mehr Fotos von solchen seltsamen, märchenhaften Szenen zu machen.

Ich reiste dann in unterschiedliche Städte und suchte gezielt nach ungewöhnlichen Orten,. Fündig wurde ich in Theatern, Zirkussen, Vergnügungsparks, aber auch in urbanen Randzonen, wo ich zum Beispiel ein Uhrenlager und eine Monsterwerkstadt entdeckte.

s\u: Welche Orte, Situationen und Menschen interessieren Sie als Fotografin?

KL: Mich interessieren Orte, die rätselhaft, skurril oder märchenhaft sind, sowie Orte, die wie aus der Zeit gefallen scheinen. Das Bild der Uhr vor dem Zirkuszelt verbindet dies alles für mich: Zirkus ist ja in gewisser Weise ein Anachronismus. Schnee hat oft etwas Märchenhaftes. Und die Kombination aus Anhänger und überdimensionaler Uhr lässt viele Fragen offen.

Auch Menschen, die ungewöhnlich wirken, weil sie sich zum Beispiel ganz besonders kleiden, wecken mein Interesse: So entdeckte ich kürzlich im Freibad eine ältere Dame, die im schwarzen Badetrikot, mit einer schwarz gerüschten Badehaube und Kniestrümpfen, zielstrebig ihre Bahnen schwamm. Sie erinnerte mich an eine schwimmende Nonne. Ich war sofort fasziniert und bat die Schwimmerin, sie fotografieren zu dürfen. Trotz der schwarzen Tracht stellte sich interessanterweise heraus, dass sie Frau Regenbogen hieß.

s\u: Was ist das Verhältnis zwischen gefundenen Motiven und gestellten?

KL: Die gefundenen Motive, also sämtliche Ortsaufnahmen ohne Menschen, waren zuerst da. Die gestellten Motive, die zum Großteil Selbstinszenierungen sind, ergänzen sie. Ich nehme in den Inszenierungen Bezug auf die Stimmung der vorgefundenen Orte und bringe eine sehr persönliche Ebene in die Serie. Es ist, als hätte ich verschiedene Theaterkulissen ganz ohne Schauspieler vorgefunden und würde diese dann bespielen. Die gestellten Motive bringen in die fragmentarische Sammlung von Orten ein erzählerisches Element und verbinden sie.

s\u: Welche Rolle spielen Tiere in der Serie?

KL: Tiere spielen eine wichtige Rolle, da ein Tier in der Stadt oft ungewöhnlich oder deplaztiert wirkt, wenn es sich nicht um typische Stadttiere, wie Hunde oder Tauben, handelt. Man rechnet mit ihnen nur im Zoo, oder auf dem Land, auf einem Bauernhof. Deswegen habe ich auch gezielt nach Orten in der Stadt gesucht, wo es Tiere gibt, beispielsweise im Zirkus oder auf einem Stadtbauernhof.

s\u: Wie steht diese Serie im Verhältnis zu Ihrer weiteren Arbeit?

KL: Die Serie steht in einem sehr engen Verhältnis zu meiner späteren Arbeit. Einzelne Aspekte, oder auch Stimmungen, wurden aufgegriffen und in anderen Serien, zum Beispiel in „Verschwisterung“ und in „Weiß“ weitergeführt. In „Verschwisterung“, einer Sammlung von Doppelporträts, sind es die märchenhafte Stimmung sowie das Mittel der Selbstinszenierung, an die anknüpfe. In „Weiß“ sind es mehr die skurrilen Motive, die ich weiterführe.

s\u: Welche Rolle spielt Stadt beziehungsweise Urbanität in Ihrer Arbeit? 

KL: Ich habe immer in größeren Städten gelebt und bin viel mit meiner Kamera umhergestreift um neue Orte zu entdecken. Besonders inspirierend finde ich Berlin, wohin ich mit vierzehn Jahren zog und immer wieder zurückkehre: In keiner anderen Stadt habe ich eine derartige Dichte an ungewöhnlichen Orten gefunden, so dass viele Bilder aus „Gelsomina“ in Berlin entstanden. Vielleicht liegt das an den vielen historisch bedingten Freiräumen dieser Stadt. Auch wenn sie nun nach und nach gefüllt werden, bleibt Berlin immer noch erstaunlich weitläufig und dezentral und entzieht sich vielerorts der Funktionalität moderner Großstädte. Auch in anderen Städten fotografiere ich gerne Orte, in die städteplanerisch wenig eingegriffen wird und die für Investoren uninteressant sind, so dass sich eigene Strukturen entwickeln können. Deswegen fällt es mir in sehr dichten Metropolen, wie beispielsweise in London, oder Paris schwerer Motive zu finden, die mich faszinieren.

 

Das Interview führten Nina Gribat und Antonio Carbone.

Autor_innen

Katharina Lepik ist Fotografin und streift gerne mit ihrer Kamera durch Städte mit Freiräumen.

mail@katharinalepik.de